Peer Learning – ein Erfolgsmodell der 42 Vienna

Rosemarie Pichler im Interview

Als Teil der internationalen École 42 geht 42 Vienna neue Wege in der IT-Ausbildung: kostenfrei, ohne Lehrende, mit Jobgarantie. Rosemarie Pichler, ehemalige Geschäftsführerin und Mitgründerin der Schule in Wien-Döbling, erklärt, wie 500 Studierende einander das Coden beibringen.

Die 42 Vienna besteht seit zwei Jahren, also vier Semestern. Wie lange dauert die Ausbildung?

Tatsächlich gibt es bei uns, anders als in einer klassischen Schule oder Hochschule, keine Semesterstruktur. Die Ausbildung hat zwei Programmteile: den Common Core als Basisausbildung und das Mastery mit einem Praktikumsteil und mehreren Spezialisierungsmöglichkeiten. Die Basisausbildung ist international für alle Studierenden der École 42 gleich und dauert acht bis maximal 22 Monate. Die Studierenden teilen sich die Ausbildung in ihren zeitlichen und organisatorischen Rahmen selbst ein. Manche sind schneller, manche langsamer – aus unterschiedlichsten Gründen. Es gibt keinen Stundenplan, sondern einen Projektplan – also man geht quasi von Projekt zu Projekt. Jedes Projekt muss erfolgreich abgeschlossen und von unterschiedlichen Peers aus der Studierenden-Community evaluiert werden, so dass man sich – ähnlich wie in einem Computerspiel – von Level zu Level weiterentwickelt. Abschließend steht dann ein Praktikum an und danach geht es in eine Spezialisierung nach Wahl, die zusätzlich rund 1,5 bis 2 Jahre beansprucht.

Gibt es bereits erste Absolvent*innen?

Ja, einige Teilnehmer*innen sind mit der Basisausbildung bereits fertig bzw. absolvieren gerade ihre Praktika. In den kommenden Monaten wird die Zahl der Abgänger*innen der 42 Vienna stark steigen. Im Vollbetrieb werden wir ab Herbst 2024 rund 450 bis 500 Studierende haben. Diese Belegung ist mit den vorhandenen 220 Workstations auf 2.200 Quadratmetern gut machbar. Und wir sind zuversichtlich, dass wir künftig rund 200 neue Absolvent*innen pro Jahr vom Campus verabschieden können.

Wie steht es um den pädagogischen Ansatz der 42 Vienna? Und kann man tatsächlich völlig ohne Programmierkenntnisse starten?

Ja, das Curriculum startet wirklich vom Punkt Null weg – und die Wissensvermittlung erfolgt völlig ohne Lehrende. Die Studierenden finden sich am Campus ein, erhalten eine Einführung und beginnen mit ihren Projektaufgaben. Das heißt, sie recherchieren online, sie tauschen sich untereinander aus, sie profitieren von den unterschiedlichen beruflichen Hintergründen und Bildungsgraden sowie vom allfällig schon vorhandenen Fachwissen der anderen. Zu Beginn wird die Programmiersprache C vermittelt als Basis für alle weiteren Programmiersprachen. Bei deren Erwerb und im weiteren Verlauf unterstützen sich die Studierenden untereinander – das ist das Prinzip des Peer Learning. Insgesamt geht es dabei stets um ein grundsätzliches, prinzipielles Verständnis der Sache: Wie funktioniert Programmierung – und was bedeutet das? Aktuell gibt es ja die Diskussion, dass etwa ChatGPT in Zukunft die Softwareentwicklung übernehmen könnte, und ob in dem Sinn nicht ohnehin alles automatisiert wird. Ich glaube hingegen, dass wir gut daran tun, die Vermittlung von Coding-Skills in unserer Gesellschaft – genauso wie Lesen, Schreiben und Rechnen – als Basiskompetenz zu forcieren.

Ein Studienraum am Campus "42 Vienna" mit vielen PCs und Studierenden.

Für die Studierenden ist die Ausbildung völlig kostenlos. Wie geht sich das aus?

Das Prinzip der École 42 – und so auch unserer 42 Vienna – ist gemeinnützig und basiert auf der engen Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Wir haben mehrere Unternehmen als Investoren an Bord, die unter anderem auch Praktikumsplätze für die Studierenden bereitstellen und aus unserem Absolvent*innen-Pool rekrutieren. Zudem sind wir dankbar, dass auch die Stadt Wien über den waff eine großzügige finanzielle Unterstützung für den Ausbildungsbetrieb bereitstellt. Da wir keine Lehrer*innen bzw. Vortragende haben, ist der Betrieb sehr schlank aufgestellt. Wir managen den Campus mit künftig bis zu 500 Studierenden mit einem Team von rund zehn Personen. Ein Ausbildungsplatz an der 42 Vienna kostet in etwa 4.000 bis 5.000 Euro pro Jahr. Und ist damit im Marktvergleich eine sehr kostengünstige, effiziente Ausbildung.

Im Vergleich zu anderen IT-Ausbildungen – gerade auch an Universitäten und Fachhochschulen – haben die Absolvent*innen der 42 Vienna keinen formalen Abschluss. Wie vermitteln sie ihre Kompetenzen in einem Bewerbungsverfahren?

Es ist richtig, dass es kein Zeugnis gibt, wo absolvierte Vorlesungen oder Noten draufstehen, noch einen österreichischen Graduierungsnachweis für einen Bachelor-, Master- oder sonstigen Titel. Dafür haben wir als Institution keine Akkreditierung. Über 42 Paris ist für unsere Absolven*innen jedoch die Ausstellung eines RNCP-Zertifikats möglich, das ein Äquivalent zum Bachelor oder Master ausweist: als Designer Developer of IT Solutions bzw. als Expert in Computer Architecture. Was wir den Absolvent*innen neben dem 42 Zertifikat mitgeben, ist eine sogenannte Skills-Matrix. Diese macht Spezialisierungen, besondere Fähigkeiten und grundlegende Kompetenzen sowie deren Ausprägung transparent sichtbar – etwa im Bereich IT- und Data-Security, Algorithmen und Künstliche Intelligenz, Web-Programmierung, oder auch Motion Design, um nur einige zu nennen. Die HR-Expert*innen in den Unternehmen können damit gut arbeiten und die Bewerber*innen dahingehend beurteilen, ob sie auf eine vakante Stelle passen. Diese Skills-Matrix zeigt auch schön, dass die 42 Vienna mehr als eine reine Fachausbildung ist – dass sie eine Kombination aus Hard- und den ebenso wichtigen 21st Century Skills vermittelt, die fit für den Arbeitsmarkt und für die Zukunft in der IT-Branche machen. Unsere Absolvent*innen zeichnet unternehmerisches Denken, kollaborative Zusammenarbeit und Freude im Umgang mit Herausforderungen aus. Und das ist es, was die Unternehmen und Partner, die in unsere Institution investieren, so schätzen.

Nachdem es bis dato noch wenige Absolvent*innen gibt: Können Sie etwas zu den Erfahrungen der École 42 mit ihren zahlreichen Standorten sagen, was die Berufserfolge der Studierenden angeht?

Die Absolvent*innen der École 42 – und das ist auch unser Anspruch hier in Wien – sind extrem gefragt. Sie sind mit ihren Skillset in der Wirtschaft anerkannt, und haben beste Chancen am Arbeitsmarkt.

Das heißt, man hat nach den höchstens 22 Monaten hier richtig gute Jobaussichten?

Unsere Absolvent*innen sind nach Abschluss der Basisausbildung auf dem Level eines Full-Stack- Developer und dürfen mit einer 100-prozentigen Jobwahrscheinlichkeit rechnen.

Rosemarie Pichler steht lächelnd vor einer dunklen Wand am Campus der "42 Vienna".

Rosemarie Pichler studierte Biologie mit einem Schwerpunkt in Humanökologie. Ursprünglich unterstützte sie Unternehmen im Bereich Ökologisches Bauen und Wohnen, und wirkte dabei in der Gründungsberatung. In dieser Zeit entstand auch ein Bildungsprojekt, das sie mit aufbauen durfte: In Form eines Unternehmens-Netzwerks in Niederösterreich, dessen Mitglieder auf gemeinsame Aus- und Weiterbildungen für ihre Belegschaft fokussierten. Schließlich wurde Pichler auf die international tätige École 42 mit Hauptsitz in Paris aufmerksam gemacht und widmete sich gemeinsam mit weiteren Kolleg*innen dem Aufbau des Wiener Standorts – der 42 Vienna.

Im März 2024, knapp zwei Jahre nach der Gründung, sind hier rund 300 Studierende in Ausbildung. Dahinter stehen gut 12.000 Bewerber*innen, davon ein Drittel von außerhalb Österreichs. Dieses große Interesse befeuert das Wachstum der 42 Vienna: Bis Herbst 2024 soll die Studierendenzahl bereits das Limit von etwa 500 erreichen. Die „42“ im Namen ist übrigens eine Hommage an „The Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy“ („Per Anhalter durch die Galaxis“) des britischen Autors Douglas Adams. Dort gilt die Zahl 42 als Antwort auf alle Fragen des Universums.