Berufsorientierung als Unterstützung in jeder Lebensphase
Interview
Im Sinne der zukünftigen Fachkräftesicherung stellt sich die berufliche Orientierung als immer wiederkehrendes Dauerthema für potenziell jede*n Menschen dar. Wir haben die waff-Expertinnen Astrid Augeneder-Köllerer und Nora Hickel dazu befragt.
Wie definieren Sie den wichtigen Begriff der Berufsorientierung?
Nora Hickel: Die Berufsorientierung umfasst zwei wesentliche Dimensionen: Eine individuelle, die sich mit der jeweiligen Interessenfindung und Lebensplanung beschäftigt. Und eine gesellschaftliche, die eng mit der Fachkräftesicherung verknüpft ist. Berufsorientierung ist kein einmaliger Moment, sondern ein langfristiger Prozess, der sich in verschiedenen Phasen des Lebens wiederholt. Wir betrachten dabei mehrere Aspekte. Einerseits die schon genannte Interessenfindung – aber eben auch die Informationssuche, den Kompetenzabgleich durch praktische Erfahrungen, und letztlich die konkreten Schritte zur Ausbildungs- und Arbeitsplatzsuche.
Astrid Augeneder-Köllerer: Der waff bietet bereits vielfältige Unterstützung wie Beratung und Förderung für berufstätige Erwachsene an. Mit dem Projekt „Berufsorientierung in Wien“, das Nora Hickel leitet, schlagen wir eine Brücke zwischen unterschiedlichen Zielgruppen. Von ganz jungen Menschen, also noch im Schulalter, bis zu Personen in ihren späten Berufsjahren. Dabei geht es um das Sichtbarmachen der bereits vorhandenen Angebote und um Weiterentwicklungsmöglichkeiten für Angebote der Berufsorientierung in Wien.

Die Stadt Wien verfügt über eine große Zahl an Angeboten, die sich der Berufsorientierung widmen. Sind im Zuge des Projekts dennoch Lücken sichtbar geworden?
Augeneder-Köllerer: Es gibt viele Programme, aber oft fehlt es an der Verknüpfung zwischen ihnen. Wir haben viele hunderte Initiativen analysiert und dabei festgestellt, dass Wien in weiten Bereichen sehr gut aufgestellt ist. Aber natürlich gibt es auch zusätzlichen Bedarf, etwa bei Angeboten für bestimmte Zielgruppen. Genannt wurden Angebote für Menschen der Altersgruppe 50 plus, neu Zugewanderte, oder in nachgefragten Branchen wie z.B. Klima und Nachhaltigkeit. Der Bereich der praktischen Berufsorientierung ist jedenfalls ausbaufähig.
Hickel: Wenn man sich die Projektergebnisse anschaut, dann ist nicht primär die Schaffung neuer Programme wichtig, sondern vielmehr die bessere Zugänglichkeit und Aufbereitung der bestehenden Angebote. Viele Menschen wissen gar nicht, welche Möglichkeiten sie eigentlich haben – und da gilt es anzusetzen.
Welche Rolle spielen sogenannte Multiplikator*innen im Bereich der Berufsorientierung?
Augeneder-Köllerer: Ihre Arbeit ist essenziell: Lehrer*innen, Trainer*innen, ganz allgemein die Erwachsenenbildner*innen und Berater*innen – sie arbeiten direkt mit Menschen, die sich beruflich orientieren oder neu ausrichten wollen bzw. oft auch einfach müssen. Viele von ihnen berichten, dass es herausfordernd ist, den Überblick über bestehende Angebote zu behalten. Deshalb wurde wiederholt die Idee einer Plattform eingebracht, die nicht nur vernetzte und aktuelle Informationen bereitstellt, sondern auch denjenigen, die vor einer neuen beruflichen Entscheidung stehen, wichtige Perspektiven bietet.
Gibt es Berufsfelder, die im Rahmen der Berufsorientierung besonders empfohlen werden. Oder im Gegenteil, von denen angesichts schlechter Zukunftschancen abgeraten wird?
Augeneder-Köllerer: Letzteres wäre der falsche Ansatz. Wir wollen niemanden „wegberaten“. Vielmehr gilt es, Chancen und Alternativen aufzuzeigen. Ein Fokus liegt aber darauf, Zukunftsbranchen wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Pflege sichtbar zu machen. Und in diesem Sinn, mit spannenden Angeboten, die Berufsorientierung auch als einen Hebelpunkt zur Fachkräftesicherung einzusetzen.
Wie unterstützt der waff auch selbst Menschen in beruflichen Orientierungs- oder Umbruchssituationen?
Hickel: Der waff richtet sich mit seinen Angeboten vor allem an erwachsene Personen. Diese bringen aufgrund ihrer beruflichen Erfahrungen oft wertvolle, überfachlich verwertbare Kompetenzen mit. Durch potenzialorientierte Ansätze sollen diese Kompetenzen auch in anderen Bereichen nutzbar gemacht werden. Weiters ist die Existenzsicherung für Erwachsene ein zentraler Faktor bei deren beruflicher Neuorientierung. Der waff bietet in diesem Zusammenhang zum Beispiel das Programm „Jobs PLUS Ausbildung“ an, das eine geförderte Höherqualifizierung mit direkt anschließendem Einstieg in ein Dienstverhältnis ermöglicht.
Augeneder-Köllerer: Der waff hilft bei genau diesen Fragen: Welche Wege stehen mir offen? Welche Qualifikationen brauche ich? Und wie lässt sich das finanziell bewältigen? Für viele Menschen ist eben gerade die finanzielle Sicherheit ein entscheidender Faktor, wenn sie eine neue Richtung einschlagen wollen.

Im April startet mit dem „Future Fit Festival“ in Wien eine besondere Initiative zur Berufsorientierung. Was steckt dahinter?
Augeneder-Köllerer: Das vom waff initiierte Festival läuft von 22. April bis 10. Juni, ist offen für alle Interessierten und bietet über 200 verschiedene Veranstaltungen zu Skills, Jobs und Branchen der Zukunft. Zahlreiche teilnehmende Unternehmen öffnen ihre Türen. Es gibt praktische Einblicke und die Möglichkeit, sich beraten zu lassen, sowie Angebote zum Ausprobieren. Die „Future Fit Experience“ etwa ist ein interaktiver Parcours, in dem Menschen aller Altersgruppen ihre Stärken entdecken und sich inspirieren lassen können. Auch hier stehen besonders nachgefragte Bereiche wie Soziales und Gesundheit, Klima und Nachhaltigkeit, sowie Technik und Digitalisierung im Fokus.
Ist das Festival für die Unternehmen vor allem ein Recruiting-Event?
Augeneder-Köllerer: Primär geht es um Angebote rund um Berufsorientierung und Berufswahl für unsere Besucher*innen. Vor diesem Hintergrund stellen Unternehmen aber auch ihre Jobprofile vor. Wer schon die passenden Qualifikationen mitbringt, kann sich im Rahmen vieler Events natürlich gleich direkt bei den Firmen bewerben.
Welche weiteren Ziele verfolgt das Projekt „Berufsorientierung in Wien“ auf lange Sicht?
Hickel: Wir arbeiten nun an Empfehlungen in mehreren Handlungsfeldern, die da wären:
- bessere Übersicht, z. B. durch eine zentrale Plattform
- Netzwerkarbeit stärken, also eine bessere Vernetzung zwischen Bildungs- und Arbeitsmarktakteuren
- passgenaue Orientierungsangebote, auf verschiedene Zielgruppen zugeschnitten
- Berufsorientierung als kontinuierlichen Prozess etablieren: nicht nur während der Schulzeit, sondern das gesamte Berufsleben begleitend
Augeneder-Köllerer: Wir wollen auch Berufe vor den Vorhang holen, die stark nachgefragt sind. Und wir entwickeln neue Formate, um Menschen auf innovative Weise anzusprechen – etwa mit gamifizierten Ansätzen oder Erlebnisräumen.
Astrid Augeneder-Köllerer arbeitet seit 1998 in verschiedenen Funktionen für den waff. Ihr Schwerpunkt lag lange im Bereich der Arbeitsintegration, bevor sie 2023 die Leitung des Entwicklungsbüros übernommen hat, um arbeitsmarkt- und bildungspolitische Entwicklungen aktiv mitzugestalten. Nora Hickel kam 2016 zum waff und leitet seit dem Jahreswechsel 2023/24 das Projekt „Berufsorientierung in Wien“.